In Susanne Schneiders Film spielen Sie eine junge Frau, die als Kleinkind von ihrer Mutter im Stich gelassen wurde, weil diese in den politischen Untergrund geht. Später schleudern Sie ihrer Mutter an den Kopf „Es gibt mich gar nicht! Ich bin ein Nichts!“ Wie spielt man jemanden, der gar nicht weiß, wer er ist und woher er kommt?
Ich habe sehr viel gelesen über die RAF, Erfahrungsberichte von Kindern der Terroristen wie etwa Felix Ensslin oder Bettina Röhl, dann aber auch Erfahrungsberichte von adoptierten Kindern, die ihre Eltern viel später gesucht, gefunden und kennen gelernt haben. Auch in meinem engen privaten Umfeld gibt es jemanden, durch den mir diese Problematik sehr vertraut ist. Diese seltsame Verlorenheit und die damit verbundene Identitätssuche – dass man eigentlich nur die Chance hat, sich entweder trotzdem mit der abwesenden Mutter zu identifizieren oder ihr jegliche Bedeutung im Bezug auf sein eigenes Leben abzusprechen, ist mir nicht unbekannt.
Vor welchem Dilemma steht ein junger Mensch, der ohne seine Mutter aufwächst?
Alice ist ja nicht einfach nur ohne ihre Mutter aufgewachsen, sondern von ihr verlassen worden. Diese große Verletzung wird in dem Moment noch übertroffen, als sie ihre Mutter glücklich mit einer neuen Familie auffindet. Als hätte es sie, Alice, überhaupt nie gegeben. Als sei die zurückgelassene Tochter für die Mutter nie ein Verlust gewesen. Das Problem ist aber, dass man seine Mutter, so sehr man es vielleicht auch will, nie loswird. Deine Mutter bleibt immer deine Mutter, egal ob sie bei dir ist oder nicht. Und so bleibt sie, auch wenn du ohne sie aufwächst, Teil deiner Identität, ob du es willst oder nicht. Wenn du versuchst, das Gegenteil zu tun, deine Mutter zu verteufeln oder zu sagen: „Ich hab mit dir nichts mehr zu tun und die Eltern, die mich großziehen, sind meine Eltern und meine biologische Mutter interessiert mich nicht“ – stimmt das so natürlich nur bedingt. Das kann man sich in seinem Kopf so zurechtlegen und einen Umgang für sich damit finden, indem man die Verbindung leugnet, aber es bleibt da immer eine unter Umständen sehr schmerzhafte Leerstelle. Letzten Endes sind sich Mutter und Tochter viel ähnlicher, als sie es je zugeben würden. In der Art und Weise, wie sie beide auf der Richtigkeit ihres Handelns beharren, so wie Judith in der Vergangenheit für ihre Überzeugungen gekämpft hat und große Opfer dafür in Kauf genommen hat, genauso kämpft Alice jetzt für ihre ganz private Gerechtigkeit. Die Bedingungslosigkeit dieser beiden Frauen, die so weit geht, dass man eigentlich das Gefühl hat, es gibt überhaupt keinen Ausweg für den Konflikt zwischen Tochter und Mutter, finde ich sehr spannend.
Diese Rolle erfordert ja doch ein großes Risiko – schließlich tritt Alice ja ziemlich wie ein unbarmherziger Racheengel auf. Am Anfang hat man deswegen fast Mitleid mit der Mutter, obwohl sie eine „Rabenmutter“ war?
Ich habe Alice niemals als so hart empfunden. Es gab natürlich die Gefahr, sie als einen Racheengel erscheinen zu lassen, der den Zuschauer nicht berührt, weil sie scheinbar ohne Empfindungen durch diese Geschichte geht und nach Außen hin einfach nur die neue Familie ihrer Mutter zerstören will. In meinen Augen ist sie eine sehr verletzliche und verletzte junge Frau. Ich würde ich ihr nie Mutwilligkeit, geschweige denn Böswilligkeit unterstellen. Ein großer Teil der Arbeit bei dieser Rolle war es, nach Außen hin diese Härte und Kälte aufzubauen und diese auch in mir zu finden. Mir war das neu – ein Mensch, der so eine hohe Mauer um sich gebaut hat und so sehr damit beschäftigt ist, diese Fassade aufrecht zu erhalten.
Susanne Schneider sagt in ihrem Interview, ihr wäre es wichtig gewesen, beiden Figuren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Meinen Sie, dass Alice am Ende des Films einen Preis zahlt für ihre unerbittliche Haltung?
Letzten Endes schon. Weil sie außer Acht lässt, dass auch andere Menschen von ihrem Handeln betroffen sind und die darunter zu leiden haben werden. Das schreckliche Dilemma an ihrer Situation ist, dass sie diesen Menschen gar nicht wehtun will. Im Gegenteil: sie sehnt sich danach, von ihnen akzeptiert und gemocht zu werden, ein Teil dieser glücklichen Familie zu sein, die ja letzten Endes auch ein Teil ihrer Identität ist. Trotzdem verlangt sie, dass jemand den Preis für ihre geraubte Kindheit zahlt. Sie will eine Tochter sein, die von ihrer Mutter geliebt worden ist und nicht von ihr für politische Ideale zurückgelassen worden ist, aber egal wie sehr wir es uns wünschen, wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen.
Die 68er haben mit der durch den 2. Weltkrieg moralisch diskreditierten Elterngeneration gebrochen und politisch, sozial und in ihren persönlichen Beziehungen etwas Neues gewagt. Aber auch sie haben durch ihre teilweise zerstörerischen Experimente neue Verletzungen, Traumata generiert. Welche Einstellung haben Sie selbst als Nachgeborene zu den 68ern?
Natürlich haben die 68er unserer Generation vieles, was heute selbstverständlich ist, erst ermöglicht. Es war bestimmt sehr wichtig, Dinge aufzurütteln und aufzudecken, diese klebrige Gemütlichkeit ihrer Eltern in Frage zu stellen. Ich empfinde diese Generation da problematisch, wo sie unterbewusst Strukturen in der Erziehung, im menschlichen Umgang übernommen hat, von der sie sich ja eigentlich losgesagt hat. Häufig steckt in ihren Überzeugungen und Verhaltensweisen genau dieselbe Kleinbürgerlichkeit, Spießigkeit und Enge. Es ist immer mit äußerster Vorsicht zu genießen, wenn Menschen aus einer Opposition gegen etwas in ein Extrem gehen; in dem Moment, wo man extrem eine Meinung vertritt oder etwas verurteilt, ist das mit dem echten Leben nicht mehr vereinbar. Man kann Menschen nicht in Schwarz und Weiß einteilen. Es gibt immer Zwischentöne. Wenn man versucht, seine eigenen Werte allem überzustülpen, wird es schwierig.
Inwiefern ist denn der Vorwurf der Mutter an ihre Tochter, die junge Generation würde sich für nichts mehr engagieren, sie sei unpolitisch und würde sich nur noch über Konsum definieren, gerechtfertigt?
Da ist bestimmt etwas dran. Aber jede Generation handelt natürlich jeweils aus ihrer eigenen Geschichte heraus. Das, wogegen meine Generation sich „auflehnt“, ist eben vielleicht genau dieser politische Anspruch, dieser politische Aktivismus, der im Sand verlaufen ist. Meine Generation rebelliert wahrscheinlich einfach auf ihre Art. Mit anderen Fragen und Regeln, aber oft wiederholen auch wir das, was unsere Eltern uns vorgelebt haben, auch wenn wir meinen uns gegen sie aufzulehnen. Ganz sicher leben wir gerade in einer Zeit, in der man eigentlich viel politischer sein müsste. Die Gesellschaft in der wir heute leben ist allerdings eine völlig andere. Ich glaube heute ist es schwerer eine klare politische Haltung zu beziehen, da das Feindbild viel schwerer auszumachen ist.
Sie waren im Kino und Theater oft als die junge, radikale, selbst zerstörerische junge Frau zu sehen, wie etwa in „Sophiiiie!“ von Michael Hofmann. Gibt es da einen Unterschied zu der erwachsenen Tochter in Wes kommt der Tag?“, die ihre Mutter auf eine sehr reflektierte, kühle Art und Weise mit ihrer Vergangenheit konfrontiert?
Ich habe tatsächlich im Kino erstmals eine erwachsene Rolle gespielt. Dadurch, dass ich in den letzten Jahren aber im Theater „erwachsen“ geworden bin, habe ich mich schon ein bisschen an diesen Zustand herangetastet. Alice ist kein „verletzliches“ Kind. Sie ist eine verletzte Frau, und das war im Bezug auf meine Filmrollen schon neu für mich. Vorher gab es eigentlich immer als Ausweichmechanismus für meine Figuren die Möglichkeit, schwach zu sein. Viele der von mir dargestellten Figuren waren bei aller Stärke letzten Endes schwach. Im Gegensatz dazu hat Alice eine Kraft, so einen Schutzschild – und es dauert ganz lange, bis da irgendetwas bröckelt. Das war für mich das Interessante – die Suche von Alice in mir selbst. Diesen erwachsenen Ernst von Alice – dieses Nicht-mehr-unschuldige – zu finden und zu spielen, hat mich sehr gereizt.
Es gibt im Film ja mehrere große Auseinandersetzungen zwischen Tochter und Mutter, wobei die beiden ja kein Jota von ihren Positionen zurückweichen. Wie sind diese Szenen im Film entstanden?
Susanne Schneider hat sehr dafür gekämpft, dass wir vor dem Dreh dieser Szenen am Set noch proben konnten, was nicht immer einfach war aufgrund der technischen und logistischen Komplexität eines Filmdrehs. Manchmal haben wir kurz vor Drehbeginn noch ausprobiert, Spiele gemacht, mit psychologischen Gesten gearbeitet. Wir haben diese Schlüsselszenen anschließend komplett durchgedreht. Es war immer der Versuch, diesen Kampf wirklich in aller Konsequenz auszutragen. Ich habe auch gemerkt, dass ich während der Dreharbeiten oft nur für mich sein wollte; Alice war überhaupt keine Figur, die ich so nebenbei einfach mal spielen konnte. Ich habe eine große Konzentration gebraucht, um bei dieser Figur zu bleiben. Irgendwie waren wir dadurch sehr im Einklang. Schließlich verfolgt auch Alice ein Ziel, das sie unter keinen Umständen aus den Augen verlieren will.
Wie war denn die Zusammenarbeit mit Iris Berben?
Es war eine sehr intensive Arbeit mit Iris, die mir großen Spaß gemacht hat und mich gleichzeitig sehr gefordert hat. Durch Susanne Schneiders besondere Art, mit Schauspielern zu arbeiten – wir hatten vor Drehbeginn eine ganze Woche Zeit, sehr intensiv zu proben – haben wir uns sehr gut kennen gelernt. Susanne Schneider hat mit uns sehr viele Improvisationsübungen gemacht, wobei wir eine sehr große Sicherheit und Vertrautheit gewonnen haben, auch im physischen Umgang miteinander. Wir haben uns in den Szenen wahrlich nichts geschenkt. Wir haben uns wirklich immer wieder aufs Neue herausgefordert. Es war, als würden wir immer wieder gemeinsam in den Ring steigen und Runde um Runde bis zum bitteren Ende ums Überleben kämpfen. Es war wirklich eine Freude mit Iris an diese Grenzen zu gehen. Und es hat mich zutiefst beeindruckt, wie sie sich in gewisser Weise mit dieser Rolle neu erfunden hat und eine Seite gezeigt hat, die man so von ihr wahrlich noch nicht kannte. Das finde ich wirklich toll.
Gibt es eine Szene, an die Sie sich besonders zurückerinnern, jetzt gut ein Jahr nach den Dreharbeiten?
Eine sehr intensive Erinnerung habe ich an die Szene, in der Mutter und Tochter im Auto aufeinander einschlagen. Bei den Proben am Set waren wir meist mit der Regisseurin allein. In diesem Fall – es war mitten in der Nacht – waren nur wir drei in dem riesigen Innenhof des Weingutes. Susanne Schneider hatte das Team gebeten sich zurückzuziehen. Iris und ich standen voreinander und ich weiß gar nicht mehr genau, wie es dazu gekommen ist, aber ich habe furchtbar geschrieen, einen ganz merkwürdigen hohen Ton – in einer unerträglichen, hohen Frequenz – und überhaupt nicht mehr aufgehört. Diesen Ton habe ich Iris förmlich in den Kopf geschlagen. Und Iris stand vor mir und versuchte mich zum Schweigen zu bringen und irgendwann schrie sie nur noch: „Hör auf! Hör auf!“. Wir wollten diese Energie finden, diesen Moment, an dem die beiden am Ende angekommen sind: die Tochter, die immer weiter sagt: „Du bist schuld! Du bist schuld! Du bist schuld!“ und die Mutter, die irgendwann wirklich einfach nicht mehr kann und zusammenbricht. Für das wartende Team, das uns nicht sehen, sondern nur hören konnte, muss das ziemlich merkwürdig gewesen sein. Überhaupt herrschte am Set ständig eine sehr besondere Spannung. Es war so, als wären die Teammitglieder Zeugen eines Konfliktes, bei dem sie nicht stören wollten und der sie merkwürdig berührt hat. Zumindest habe ich es so empfunden. Ich habe noch nie so ein stilles Team erlebt.
Das Interview stammt aus der Pressemappe des Kinoilms „Es kommt der Tag“, produziert von Wüste Film Ost, in Koproduktion mit filmtank Stuttgart, Wüste Film West, Unlimited Straßburg, SWR, WDR, Arte